Der Graue Vogel

Im Schilf eines Baggersees, der in der Nähe eines großen Flusses in Süddeutschland liegt, kam eines Tages ein kleiner, dicker Vogel auf die Welt. Es gab nur wenige Brutplätze im Schilf, und wenige Wochen zuvor war der vorletzte Vogelnachwuchs für lange Zeit aus dem Ei gekrochen. Eigentlich sollte der Graue Werner heißen, aber das Schicksal verhinderte dieses Unglück, weil die Eltern des Nachbargeheges auf den gleichen unsinnigen Gedanken gekommen waren. Ein Spielkamerad wurde Werner jedoch nie, weil er an einem jämmerlichen Wintertag in das gähnende Eis des Sees einbrach und in den vom braunen Fluss geschmutzten und erwärmten Fluten unterging. So hatte sein Leben nur den einen Sinn gehabt, zu verhindern, dass der kleine graue Vogel Werner getauft worden wäre.

So wuchs unser draller Freund heran und seine Lieblingshosen waren grau und eines Tages zerschlissen. Nur unter Tränen gab er seine Kleidung ab, versäumte es aber, bunte Federn zu bestellen. Diese hätte er ja sowieso nicht bekommen, er war ja ein Junge. 

Eines Tages merkte er, dass er nicht fliegen konnte. Das war aber so Tradition in der Familie, man flog nicht, das war eine unnütze Sache. Es gab genug zu Picken im Schilf und den angrenzenden Wiesen. Weil der Kleine trotzdem seine Stummelchen ausbreitete und abzuheben versuchte, wurde er bald gescholten und erfuhr, dass er zu den schlimmsten Kreaturen am Fluss gehören würde. Darauf war er schon ein bisschen stolz, denn er wollte besser als die andern sein. Alle Versuche, sich in die Lüfte zu erheben, endeten mit Schmerzen, Schlägen und Tränen.

Vögel, die nicht fliegen können, müssen laufen. Dicke Vögel laufen schlecht. Ein dicker Vogel will schneller werden. Er bewegt sich und wird dünner, er wird ausdauernder und schneller. Aber er ist nur einer von vielen.

Drüben am Ostufer war die Schule. Die, die nicht fliegen konnten, mussten hinüberschwimmen. Das dauerte lange, war langweilig und unbequem. Dort traf unser Einsiedler vom Schilf andere junge Vögel. Nur wenige waren grau, aber auffallend viele konnten auch nicht fliegen. Es schien ihnen aber nichts auszumachen, manche liefen unbekümmert umher, andere pickten nur oder lagen aufgeplustert in der Sonne. Einige hackten sich in die Augen  oder rupften sich die Federn aus. Der kleine graue Vogel verstand das nicht, manchmal bekam auch er etwas ab, obwohl er nun nicht mehr dick war.

Im Sportunterricht war eines Tages Dauerlauf angesagt. Keiner von der Schule konnte fliegen, diese anderen Vögel gingen aufs Gymnasium nebenan. Und da kämpfte der graue Kerl. Es ging erst den toten Fluss hinunter zum nächsten Steg, der über Treppen erreicht wurde. Hoch über den Fluten schwankte der Übergang vom Aufprall der Krallen. Das faulige Wasser strömte in die brennenden Lungen. Auf der anderen Seite ging es zurück, unmerklich aufwärts bis zum Eisensteg. Der war fester und schwankte nicht, auch waren die Tritte müder und das Ziel fast erreicht. Der kleine Vogel belegte den siebten Platz, einige von den Pickern und sogar ein Dauerschläfer waren vor ihm.

Nachts träumte er vom Fliegen. Manchmal konnte er wenigsten mit großer Anstrengung über einen Zaun flattern. Morgens ging nichts mehr. Aus Verzweiflung lief er oft den weiten Weg um den See nach Hause zum Schilf. Er stürzte sich von den Parkbäumen, und in der alten Scheuer von den höchsten Balken in Stroh und Heu. Saltos gelangen und Bauchlandungen, aber nie schwebte er. Eines Tages gab er auf.

Inzwischen waren seine Eltern von kleinen Schilf in die großen Büsche am Fluss umgezogen. Im Schilf hatte es immer Ärger mit den Aasgeiern gegeben, die nach dem Kriege aus Ungarn eingeflogen waren. Es gab sogar einmal einen Kampf auf Leben und Tod, bei dem der gute Vater des Grauen arg zerzaust wurde. Von diesem Vorfall erholte der sich nie mehr und starb bald nach dem Umzug zum Fluss.

Der graue Vogel bekam im Laufe der Jahre etwas Glanz aber keine Farbe. Er hatte Freunde und fühlte sich meistens sehr wohl. Fliegen konnte er noch immer nicht, er hatte es auch nie mehr probiert. Aber die Träume hörten nie auf und eine bleierne Niedergeschlagenheit lag auf den Tagen nach einem solchen Traum.

Inzwischen lief er nicht mehr gegen Vögel. Die Picker und Sonnenanbeter waren von der Schule abgegangen und brauchten nicht mehr den ungeliebten Sportunterricht zu besuchen. Unser Vogel lief nun gegen Hasen, Windhunde und Rennpferde. In seinem ersten Rennen hatte er sie alle geschlagen. Er war ihnen uneinholbar enteilt und rettete sich halb ohnmächtig ins Ziel. Von da an glaubte er für wenige Tage, er hätte das Fliegen endlich gelernt. Seine Gegner waren aber nicht die zähesten und erfahrensten gewesen, es waren junge Hunde, die den plumpen Gegner zu spät ernst genommen hatten. Die nächsten Wettläufe waren wie die Sturzflüge von den Scheunenbalken.

Immer war er der schnellste Vogel unter den wenigen, die an den Start gingen. Er blieb aber ein Mitläufer, ein Hinterherrenner, ein Nichts im großen Mittelfeld, ein Mittelmaß unter all den schnellen Hirschen vor ihm. Schon längst trainierte er systematisch, hart erbarmungslos. Das winzige Spatzenhirn konnte nicht verstehen, dass dies nur das Anrennen gegen eine Mauer war. Eines Tages pochte das kleine Herzchen wie wild, nicht einmal in den Nächten fand es Ruhe. Die Sterne leuchteten durch das Gebüsch am Fluss und unser Freund saß wach im Geäst. Lange Zeit blieben die Windhunde unter sich.

Jahre später drohte der ausgewachsene graue Vogel wieder dick zu werden. Er lief noch immer, aber nur noch mit anderen Vögeln und nicht mehr gegen sie. Noch immer hatte er das Fliegen nicht gelernt und mit zunehmendem Gewicht gab es auch nicht mehr die geringste Chance. Da kam der Zufall zu Hilfe. Zugvögel hatten die Nachricht übermittelt, dass weit im Westen im Tal des größten deutschen Stromes ein reiner Vogellauf veranstaltet würde. Alte Erinnerungen wurden wach, endlich die Chance, ohne Gazellen, Rehe und andere Lauftiere wieder ganz vorne zu landen wie in jenem ersten Rennen. Dieser Comebackversuch geriet zur großen Enttäuschung. Voller Siegesfreude am Start, ein Häuflein Elend in Ziel. Es gab auch unter seinesgleichen austrainierte, schlanke Tiere, der Abstand zu den Siegern betrug Lichtjahre. Diesmal ergab sich der dickliche Graue in sein Schicksal.

Er war in unregelmäßigen Abständen immer wieder dabei, recht erfolglos. Manchmal gab es kleine Fortschritte, oft wieder Rückschläge. Eines Tages schnappte er sich wieder einen lahmenden Hirsch, einen alten Windhund oder ein krankes Reh. Sein Training wurde sinnvoller, geduldiger und umfangreicher. Endlich durchstreifte er Landschaften, die nur wenige gesehen hatten, erlebte Eis im Gefieder und triefte im Gewitterregen genauso selig wie in der warmen Sonne oder im milchigen Nebel seiner Heimatgewässer.

Dann kamen die Tage, an denen unser Glücklicher immer unter den ersten zu finden war. Irgendwann hatte er sie dann alle hinter sich gelassen. Das geschah öfters aber nicht häufig. Die Gegner waren Lauftiere und viel jünger. Mit den gleichaltrigen Hasen und Hunden aus ganz Württemberg aber konnte sich der graue Vogel gut messen. Oft war er unter den drei besten im Lande, mehrmals der Sieger. 

Noch warten die Gazellen, Antilopen und Geparde der anderen Erdteile auf einen Wettstreit.

Und fast unbemerkt ging der große Traum doch noch in Erfüllung. Er hatte das Fliegen gelernt. Ohne Federn schwebte er über Vulkane und auf Schneeberge, über Wiesen, durch Wälder, über Sandstrände und Wattenmeere, auf Landstraßen und stillen Pfaden. Er fühlte kaum das Gewicht seines kleinen Körpers, das Herz schlug ruhig und gleichmäßig, es war wie ein Flugzeugmotor über dem Atlantik. Oft im Abendrot schimmerten die Federn rotgolden, dann war er nicht mehr der graue, kleine Vogel.

Günter Krehl  20./21. 01. 1996

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